Der Schreiner



Da seid ihr ja. Schön, dass wir alle wieder zusammen sind und ihr mir in die Welt der Erzählungen folgen wollt. Macht es euch hübsch gemütlich, lehnt euch zurück und ich will versuchen euch ein wenig zu unterhalten.
Wie alle guten Geschichten, fängt auch diese mit Es war einmal an:


Es war einmal ein Schreiner der sein Handwerk wirklich gut verstand. Wisst ihr was ein Schreiner ist? Bestimmt, aber für die, die es noch nicht wissen, will ich es kurz erklären. Ein Schreiner stellt mit sehr viel Geschick aus Holz schöne und praktische Möbel her: Tische, Stühle, Bänke, Schränke, Betten, Regale und vieles, vieles mehr. Das ist eine schwierige Arbeit und wenn man sie lernen möchte, muss man Jahre bei einem erfahrenen Schreinermeister in die Lehre gehen. Der bringt einem dann bei, wie man diese Dinge baut, wie man die Werkzeuge richtig benutzt und welches Holz am besten für Regale oder für Betten geeignet ist. Nun, ihr merkt schon, ich komme etwas ins Schwafeln. Ehrlich gesagt kann ich nicht besonders viel darüber erzählen, denn ich selber bin kein Schreiner. Ich bin nur jemand, der einen Schreiner kennt. Der Mann, von dem ich berichten will, war einer der besten Schreiner die es damals gab. Er konnte wirklich alles herstellen und es war alles sehr stabil. Und darauf kommt es beim Schreinern an. Stellt euch einmal vor, jemand möchte sich abends in sein Bett legen - zum Beispiel weil er müde ist. Vielleicht hat er während des Tages viele schwere Dinge tragen müssen und nun lässt er sich auf sein Bett fallen und kracht mit einem ordentlichen Schreck und vermutlich auch ein wenig albern auf den Boden. Der eine oder andere mag bei dem Gedanken daran schmunzeln, aber wenn einem so etwas selber zustösst, lacht man eher nicht. Ich glaube also gerne, wenn mir mein Bekannter erzählt, dass es wichtig ist die Dinge stabil zu bauen. Und er konnte das. Am allerbesten konnte er Kisten bauen.
„An einer Kiste“, sagte er immer, „an einer Kiste, kann man sehen wer sein Handwerk versteht.“ Als ich ihm sagte, dass ich glaubte an einer Kiste sei doch nichts besonderes, dass sie jeder bauen könnte, ja sogar ich könnte eine Kiste bauen, lächelte er nur und sagte: „Ja natürlich kannst du eine bauen. Aber wäre sie auch gut? Sieh mal, wenn man eine Kiste baut muss man viel bedenken. Was soll mal darin aufbewahrt werden? Soll darin etwas transportiert werden? Braucht sie Henkel, damit man sie besser tragen kann? Wie viel Gewicht muss sie aushalten? Wie schwer darf sie sein? Schließlich muss man das Gewicht der Kiste selbst ja auch noch tragen. Muss sie einen Deckel haben? Muss der Deckel aufklappbar sein oder reicht es wenn er zugenagelt wird? Wie groß muss sie sein? Ist sie zu groß passt sie womöglich nicht durch die Tür und die Kiste muss für immer vor dem Haus stehen. Ist sie zu klein, passt am Ende gar nicht hinein, was eigentlich hinein gehört.
„Du siehst“, sagte er, „eine Kiste will gut bedacht sein.“ Ich war ganz erstaunt. Es stimmte also, er war wirklich gut im Kistenbauen.
Eines Tages kam ein Mann zu ihm und sagte, er habe davon gehört, dass er ein sehr guter Schreiner war. Er wollte ein paar Kisten in Auftrag geben.
„Schön“, sagte da der Schreiner, „ich baue sie dir.“
„Das ist gut“, antwortete der Mann, „ich brauche nämlich wirklich viele davon. Mindestens eintausend.“ Der Schreiner freute sich sehr über diesen Auftrag. Tausend Kisten, - von dem Erlös konnte er lange gut mit seiner Familie leben. Also willigte er ein. Nach drei Monaten waren alle Kisten fertig. Sie waren so gut und so stabil, dass der Mann gleich weitere eintausend in Auftrag gab. Als diese fertig waren, kam er wieder und wollte diesmal zweitausend. Und so ging es immer weiter. Irgendwann wollte der Herr so viele Kisten, dass der Schreiner noch Arbeiter brauchte um sie rechtzeitig fertig zu bekommen. Mittlerweile arbeiteten seine beiden Söhne auch in der Werkstatt und noch drei andere Arbeiter. Aber die Werkstatt war nur sehr klein und so musste er eine größere bauen lassen. Er stellte schließlich über zehntausend Kisten im Jahr her. Das sind 27 Kisten pro Tag. Da musste jeder Arbeiter fast fünf Kisten pro Tag bauen. Das war ein ganz schönes Stück Arbeit. Schließlich sollten ja alle auch sehr stabil sein.
Eines Abends, als der Schreiner sehr müde von seiner Arbeit war, setzte er sich vor den Fernseher und schaute sich die Nachrichten an. Das hatte er schon eine ganze Weile nicht mehr getan und er war gespannt darauf, was so alles in der Welt vor sich ging. Der Nachrichtensprecher erzählte von Sportlern, die eine Goldmedaille gewonnen hatten, weil sie besser waren als alle anderen. Und dann erzählte er von einem Feuer, das ausgebrochen war, weil jemand vergessen hatte die Kerzen auf seiner Geburtstagstorte auszublasen. Zum Glück war niemand dabei verletzt worden und die Feuerwehr konnte den Brand löschen. Danach berichtete er mit ernster Stimme, dass im Krieg viele Soldaten gefallen waren. (Welcher Krieg das war habe ich im Moment vergessen, es ist ja schon lange her.) Das Bild wechselte und der Schreiner sah ein Flugzeug, das seine Ladeluke ganz geöffnet hatte. Es  sah beinahe aus, als würde es ein gewaltiges Maul aufsperren, damit  einige Männer die vielen Särge heraustragen konnten. Auf allen war eine Landesfahne aufgelegt und in jedem lag ein toter Soldat. Der Schreiner musste an seine eigenen Kinder denken und war froh, dass sie nicht in den Krieg ziehen mussten. Aber er dachte auch an die Eltern der toten Soldaten. Es war schließlich nicht besonders schön wenn das eigene Kind starb. Wahrlich nicht. Aber dann sah er sich die Särge etwas genauer an. Seine Augen wurden immer größer und seine Kehle wurde immer trockener.
Die Kisten waren sehr stabil.
Und sie waren auch sehr gut gefertigt.
Und da begriff er: Diese Kisten hatte er selber hergestellt. Viele davon mit seinen eigenen Händen. Von dem Geld, dass er dadurch verdient hatte, hatte er sich diesen Fernseher angeschafft. Und das Sofa. Und ein neues Auto. Seine Kisten waren Särge. Ihm wurde ganz mulmig im Bauch und er konnte nicht länger dem Flugzeug ins Maul gucken. Er schaltete schnell den Fernseher aus und legte langsam die Fernbedienung zur Seite. Er stützte sein Gesicht auf die Hände und weinte. Er weinte sehr lange und als seine Frau ihn am nächsten Morgen  fand, konnte nicht einmal sie ihn beruhigen. Irgendwann ging er dann in sein Bett und versuchte einzuschlafen. Doch es gelang ihm nicht. Es sollte ihm sein ganzes Leben lang nicht mehr gelingen.


J.C.

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