Die Begegnung, die keine war


Die trockene Kälte des Winterabends schlägt ihm ins Gesicht. Der Regionalexpress ist - wie jeden Freitag zur Feierabendzeit - rappelvoll gewesen. Tief durchatmen, die Menge der Berufspendler schiebt sich langsam in Richtung der Unterführung, Feuerzeuge flammen auf und erleuchten für einen kurzen Moment die Gesichter, gezeichnet von den Strapazen der Woche.

Wochenende! - Den Hebel, der von Alltags- zu Feierabendlaune umschaltet, hat hier noch keiner umgelegt. Neben ihm zündet sich ein Mädchen eine Zigarette an. Sie hat schwarzes Haar und der Mantel - beige - bedeckt sie bis kurz oberhalb der Knie. Kaum schaut der Rock, den sie darunter trägt, unter dem Mantel hervor. Seine Aufmerksamkeit folgt den in dicken schwarzen Nylonstrümpfen verpackten Beinen, bis sie von den braunen Wildlederstiefeln gefangen genommen wird, die gleichzeitig den Endpunkt der kurzen Reise markieren.

Unwillkürlich werden seine Schritte ein wenig langsamer. Der Strom der Pendler zwängt sich, quetscht sich, zerrt sich durch die enge Unterführung. Eile? Nein, heute nicht bei ihm. Ein wenig Abstand, lass sie doch drängeln...

Die Treppe hinauf, sie ist dicht hinter ihm, dann rechts herum. Ein kurzer Blick über die Schulter, sie geht geradeaus. Jetzt zündet er sich auch eine Zigarette an, geht zwischen den Fahrradständern hindurch über den Bahnhofsvorplatz. Auf der Straße geht sie, wechselt die Seite, wechselt auf seine Seite. Ihre Waden glänzen im Schein der Straßenlaternen.

Handyklingeln in seiner Tasche. Unisachen, bah. Blöde Bürokratie! Mit halbem Ohr am Handy  wendet er den Blick nicht ab von der Person, die vor ihm geht. Schlanke Beine. Schon bald ist er, dessen Gang um ein weniges rascher ist, fast gleichauf. Zwei Wildlederstiefel dicht vor ihm, sie muss jedes Wort verstehen. Worte, die für das andere Ende der digitalen Sprechverbindung gedacht sind - nicht für sie.

Er beschleunigt seine Schritte, will überholen. Hier auf dem Land ist es komisch, ein paar Schritte hinter jemandem zu gehen, wenn die Bürgersteige sonst leer sind. Was sie wohl denkt?

Da ist die Querstraße. Über den Zebrastreifen und durch den historischen Friedhof, die Kommilitonin immer noch am Ohr, Kippe - lässig (haha) - in der rechten Hand. Und sie direkt hinter ihm, geht schneller, hat ihn fast wieder eingeholt. ?! Durch das Friedhofstor auf der anderen Seite. Reste vom morgendlichen Schneegestöber knacken unter den Sohlen, beweisen, dass es wieder kälter geworden ist. Wegen den Waschbetonplatten auf dem Weg der jetzt kommt, könnte er ganz hervorragend den Abstand zwischen ihnen einschätzen - wenn er den Mut hätte, sich umzublicken; was er mit einem Mal nicht mehr braucht, denn da geht sie schon neben ihm, das sieht er aus den Augenwinkeln. Warum???

Irgendwie rennt das Herz jetzt. Nicht gefühlstechnisch emotional, doch physiologisch gesehen. Und das kann er spüren. Was für eine seltsame Situation ist dies bitte? Menschenleere Wege in einer winzigen, trostlosen Kleinstadt und eine völlig fremde Frau geht direkt neben ihm. Keiner von beiden schaut zur Seite, beide blicken starr geradeaus. Moment mal,  denkt er: Habe ich jetzt meine Geschwindigkeit verlangsamt oder geht sie schneller?

Was sie wohl denkt, denkt er, als er an der Ampel steht. Sie auf zwei Metern Entfernung daneben. Normalerweise geht er hier bei rot hinüber, da kommt eh nix. Heute jedoch nicht. Die Ampel springt nicht auf grün. Er hat nicht den Knopf gedrückt - sie hat nicht den Knopf gedrückt. Als er das bemerkt ist ihm das peinlich, die Hand schnellt nach vorn, hastig landet sie auf der Berührungsfläche für das Ampelsignal. Ein scheuer Blick in ihre Richtung. Gerade noch kann er erkennen, wie sich ihr Blick auffällig rasch von ihm abwendet. Oh du herrliches Adrenalin!

Wie schön ihr Gesicht ist. Und ihre Pupillen in den Augenwinkeln...kann er sehen, denn sie schaut in seine Richtung. Da zeigt die Ampel grün. Über die Straße und dann biegt sie links ab, denkt er. Alle biegen hier links ab. Aber sie, sie geht geradeaus. Ganz am äußersten Rand des ohnehin schmalen Gehsteigs balanciert er jetzt, damit für sie auch noch Platz ist und sie überholen kann. Ich will ja nicht in den Verdacht geraten, sie belästigen zu wollen, denkt er. Der Bürgersteig wird schmaler und da ist sie jetzt, zum Greifen nah. Das ist mir doch zu komisch, schießt es durch seinen Kopf und er beschleunigt seine Schritte. Was soll denn das werden?

Trotzdem versucht er, seinen Gang so männlich wie nur möglich aussehen zu lassen, jetzt wo er ein wenig Vorsprung hat. Unbeholfen wirkt das Ergebnis wahrscheinlich, aber was solls, krumme Beine sind nun einmal krumme Beine. 

Als er die Kreuzung erreicht und einen Blick nach hinten riskiert, ist der Gehweg hinter ihm frei. Keine Seele geht dort. Niemals wieder hat er dieses Mädchen gesehen. Einerseits empfindet er eine leichte Enttäuschung, andererseits eine etwas größere Erleichterung. Es hilft doch nichts: Erlebnisse dieser Art sind nicht geeignet, die eigene Beziehung zu festigen. Und wenn man diesen Dingen nicht aus dem Weg gehen kann, dann ist es die Freundlichkeit des Schicksals, wenn sie es selbst tun.

Oder etwa doch nicht?

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